Session 9 - Binary impositions on a fuzzy world

Die begleitenden Slides gibt es hier: slides/session9.html

Einstiegs-Sequenz

Zum Start:

  • 5min Aktiver Teilnahmecheck im TUWEL

    • Wie viel hast du dich bis zu dieser Session schon mit Geschlechterkonstruktionen abseits eines binären Systems auseinandergesetzt und wie stark hat das damit zu tun ob/wie viele Leute du persönlich kennst, die sich nicht klar in einem binären Geschlechterraum verorten können oder wollen?

Input-Sequenz

Ein Thema, das wir bis jetzt nie so explizit besprochen haben ist, wie Geschlecht eigentlich definiert wird. Das war auch nicht so notwendig, um dennoch über strukturelle Machtverhältnisse entlang von Geschlechtergrenzen zu sprechen, weil wir alle meist ein sehr einfaches, implizites Verständnis von Geschlecht haben. Mit diesem wurden wir erzogen und sozialisiert, und sehr viele soziale Prozesse haben sich um einen Standard etabliert, der zwei Geschlechter kennt: weiblich und männlich. Und je nach Denkkollektiv in dem mensch diesbzüglich verortet ist, wird dieser Einteilung mehr oder weniger Gewicht beigemessen, von essentiell determinierend bis zu egalitär gleichgültig. In den seltensten Fällen muss dabei aber die Grundannahme, dass es klar zwei zu unterscheidende biologische Geschlechter gibt, genauer unter die Lupe genommen werden.

Genau das wollen wir aber in dieser Session tun, und uns biologische oder auch biologistische Definitionen von Geschlecht anschauen und dabei auch einen Blick darauf werfen wie Inter- und Transgeschlechtlichkeit medizinisch konzeptionalisiert werden. Basierend darauf können wir im Anschluss diskutieren, welche Konsequenzen bzw. wie entscheidend eigentlich Geschlecht für unsere technofeministischen Perspektiven ist.

Ich werde euch dazu durch folgende Themenblöcke führen und versuchen einen groben Überblick zu vermitteln:

  1. Medizinische / Biologische Definitionen von Geschlecht

  2. Inter* / Intersex / Intergeschlechtlichkeit

  3. Trans* / Transgender / Transsexualität

  4. Fazit

Medizinische / Biologische Definitionen von Geschlecht

Üblicherweise (das heißt, in der hegemonialen Sprech- und Sichtweise) wird mit Geschlecht eine biologische Klassifizierung in zwei Klassen disjunkter Merkmalsträger:innen bezeichnet. Nach dieser Klassifikation sprechen wir im Fall von Menschen stets von „Frauen“ und „Männern“.

Diese zuerst einmal nicht selbstbestimmte Zuweisung kann nur von anderen Menschen vorgenommen werden, da ich mich bei der Geburt ja schwer selbst dazu äußern kann. Wobei das freilich daran liegt, dass es überhaupt erst einen gesellschaftlichen Zwang gibt, gleich bei der Geburt ein Geschlecht zuzuweisen. Es gibt und gab aber verschiedene Gesellschaften wo dies teilweise auch anders gehandhabt wird – ich spreche in weiterer Folge aber von unserem gesellschaftlichen Normumfeld hier vor Ort in Wien.

Üblicherweise also berufen sich jene Anderen auf „objektive“ Tatsachen oder explizit auf medizinische bzw. bio-wissenschaftliche Erkenntnisse. Dass aber eine Definition von Geschlecht gar nicht so einfach ist, zeigt bereits ein Blick auf den deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag zu Geschlecht, bzw. folgender Screenshot eines Auszugs dieser Begriffserklärungsseite:

Quelle: Screenshot vom 14.5.2023 der Seite Geschlecht auf de.wikipedia.org

An den Wikipedia-Artikeln ist auch anhand der Versionsgeschichte ersichtlich, dass diese Begriffe (auch im biologischen und medizinischen Diskurs) gesellschaftlich verhandelt werden müssen. So findet sich auf der englischsprachigen Wikipedia beim Artikel “Sex differences in humans” zur Zeit folgende Einleitung:

“Sex differences in humans have been studied in a variety of fields. Sex determination occurs by the presence or absence of a Y in the 23rd pair of chromosomes in the human genome. Phenotypic sex refers to an individual’s sex as determined by their internal and external genitalia and expression of secondary sex characteristics.” (WP (en): Sex differences in humans. 2023-05-14.)

Sehen wir uns den selben Artikel Anfang 2016 an, findet sich dort:

“In humans, biological sex is determined by five factors present at birth: the presence or absence of a Y chromosome, the type of gonads, the sex hormones, the internal reproductive anatomy (such as the uterus in females), and the external genitalia.” (WP (en): Sex differences in humans. 2016-01-11.)

Die Auflistung dieser 5 Faktoren wird dabei mit folgender Quelle belegt: Knox, David; Schacht, Caroline. Choices in Relationships: An Introduction to Marriage and the Family. 11 ed. Cengage Learning. Dort finden sich diese fünf Faktoren nochmals mit kurzen Anmerkungen aufgelistet. Direkt darunter schreiben sie:

“Even though we commonly think of biological sex as consisting of two dichotomous categories (female and male), biological sex exists on a continuum. Sometimes not all of the items identified are found neatly in one person (who would be labeled as a female or a male). Rather, items typically associated with females or males might be found together in one person, resulting in mixed or ambiguous genitals; such persons are called hermaphrodites or intersexed individuals. Indeed, the genitals in these intersexed (or middlesexed) individuals (about 2 percent of all births) are not clearly male or female (Crawley et al. 2008).” (Knox and Schacht 2010, p. 78)

Jetzt können wir aber auch weiter recherchieren und feststellen, dass es sich bei den Autor:innen in dem Fall um Soziolog:innen handelt. Aber auch in der Biologie und Medizin ist die Sache nicht so viel klarer. Unter anderem wird das im Artikel von Anne Fausto-Sterling klar, den wir zur Vorbereitung gelesen haben. Auf Fausto-Sterling, selbst Biologin, kommen wir später noch zurück.

Nicht nur der Begriff “Geschlecht”, sondern auch seine naturwissenschaftliche Definition ist umstritten. Das wurde nicht zuletzt in den letzten Jahren immer wieder sichtbar. Ein wissenschaftlicher Streitfall, der es im letzten Jahr auch in die breitere Öffentlichkeit geschafft hat, war ein Vortrag einer Biologie-Doktorandin an der Humboldt-Universität Berlin, der unter dem Titel “Geschlecht ist nicht gleich Geschlecht. Sex, Gender und warum es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt” geplant war aber, aber dann aufgrund von Protest abgesagt wurde. Dazu hat u.a. derStandard am 3. Juli 2022 berichtet: Berliner Humboldt-Universität sagt Vortrag zu Geschlecht und Gender ab. Auch wenn wir hier nicht weiter in die Tiefe gehen, wollte ich diesen Fall erwähnen, weil er auch spannend im Austausch mit dem Thema unserer letzten Session war: public engagement in/with science.

Auch wenn es zu diesem Thema nun aus feministischen Perspektiven sehr unterschiedliche Beiträge gibt, weil die unterschiedlichen Strömungen je nach Perspektive auch mehr oder weniger Interesse bzw. Bedarf an einer klaren oder vielleicht auch dichotomen oder binären Geschlechtsdefinition haben, möchte ich nachfolgend ein paar Perspektiven aus der feministischen Technikforschung bzw. ihrem Umfeld beisteuern, die Anregungen dazu geben unsere bisherigen Vorstellungen zu überdenken.

Unter anderem beschreibt Margarete Maurer in einem Beitrag von 2002 sehr ausführlich wie sich die Definitionen von Geschlecht einerseits historisch verändern und andererseits auch in einer historisch-konkreten Fassung nicht konsistent sind (vgl. Maurer 2002). Hier finden wir dann zumindest 6 Kriterien anhand derer Geschlecht (je nach Kontext) klassifiziert wird bzw. wurde:

  1. chromosomal: es wird nach Art des Chromosomensatzes entschieden (Stichwort: XX, XXX, XY, XYY)

  2. gonadal: es wird nach Art der Keimdrüsen unterschieden

  3. morphologisch oder phänotypisch bzw. genital: es wird nach Art der Geschlechtsorgane unterschieden

  4. hormonell: eine Unterscheidung wird aufgrund spezifischer Hormonhaushalte vorgenommen

  5. verhaltensbiologisch: aufgrund gewisser Verhaltensweisen, die nur bestimmten Geschlechtern zugesprochen werden, wird eine Unterscheidung in jene vorgenommen

  6. gehirnanatomisch und -physiologisch: nach Form, Struktur oder Funktionsweise des Gehirns wird eine Zuordnung zu bestimmten Geschlechtern vorgenommen

Diese Kriterien unterliegen einem zeitlichen Wandel. Sie werden immer wieder aufgrund neuer Forschungsergebnisse angepasst. Immer wieder mal kommt es vor, dass Personen untersucht werden (aus unterschiedlichsten Gründen), deren physische Konfiguration der bestehenden Definition widerspricht. Eines der oben genannten Kriterien scheint also nicht vollständig zu sein. Beispielsweise wenn eine “Frau” einen Chromosomensatz aufweist der nicht dem einer “Frau” entspricht. In diesem Fall muss dann eben das jeweilige Kriterium, oder auch die Gesamtmatrix der Geschlechtsdefinition “Frau” angepasst werden – oder diese Person wird nicht mehr als “Frau” definiert.

Zentral daran ist, dass bereits vor der Untersuchung eine Vorannahme gemacht wird. Nämlich folgende: Es gibt genau zwei Geschlechter, und zwar “weiblich” und “männlich”. Vor diesem Hintergrund wird dann versucht, eine Matrix (oder sagen wir eine Form bzw. ein Raster) zu finden (oder vielmehr: zu konstruieren), mit der die genannten Kriterien dann stets zu der gewünschten binären Einteilung führen. Margarete Maurer bezeichnet diese Zwangszuordnung als Sexualdimorphismus. Das ist auch insofern spannend, als dass Sexualdimorphismus in der Biologie eine beschreibende Kategorie ist (oder sein sollte) und nicht eine normative. Hier wird dann sowohl die gesellschaftliche Wirkmächtigkeit als auch die gesellschaftliche Bedingtheit naturwissenschaftlichen Wissens sichtbar.

Auch Anne Fausto-Sterling beschreibt, wie Geschlechterdualismen immer wieder angepasst und forciert werden. Vor dem Hintergrund vorerst nicht einordenbarer Körper schreibt sie:

„hinter diesen Debatten über die Bedeutung solcher Körper und den Umgang mit ihnen [verbergen sich] Kämpfe über die Bedeutung von Objektivität und der zeitlosen Beschaffenheit wissenschaftlichen Wissens“ (Fausto-Sterling 2002, 27)

Unsere Prämisse für die weitere Arbeit müsste also lauten, dass Geschlecht jedenfalls nicht dichotom und auch nicht absolut binär kodiert werden kann – also nicht nur in unserem Alltag oder in gesellschaftstheoretischen Debatten sondern auch in vermeintlich objektiven naturwissenschaftlichen Praxen. Unter Umständen könnten wir Geschlecht - wenn es uns ein Anliegen wäre - dennoch als binär verstehen, wobei Individuen dann jeweils prozentuelle Anteile an den binären Polen aufweisen und damit der Geschlechterraum ein Spektrum darstellt. So oder so kann keine klare und eindeutige Zuordnung für alle Individuen zu jeweils einem von zwei Geschlechtern vorgenommen werden. Diese Erkenntnis ist allerdings noch nicht überall hin durchgedrungen. Und trotzdem gab und gibt es immer wieder auch naturwissenschaftlich fundierte Gegenbefunde und diese Einsichten berücksichtigende Praxen.

Ein wichtiger Beitrag stammt hier von Heinz-Jürgen Voß, der mit seiner Disseration Making Sex Revisited: Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive (Voß 2010a) nachzeichnet wie sich inzwischen in Biologie und Medizin wesentlich komplexere Geschlechterkonstruktionen etabliert haben, als dies in einem öffentlicheren Diskurs sichtbar wird. Während diese Publikation sehr lesenswert ist, wurde parallel dazu mit dem Büchlein „Geschlecht. Wider die Natürlichkeit“ (Voß 2010b) eine kompaktere Einführung in das Thema veröffentlicht. Voß, selbst kritischer Biologe und Sexualwissenschafter, fasst hier in kompakter und allgemeinverständlicher Weise die verschiedenen historischen und aktuellen Konzeptionen von Geschlecht zusammen. Spannend ist hier auch festzustellen, dass bis in die 1920er Jahre ein viel diverseres Verständnis von Geschlecht in Naturwissenschaften und Medizin vorhanden war. Erst durch Emigration oder Ermordung vieler namhafter Wissenschafter:innen durch die Nazis wurde ein rigides Zweigeschlechtermodell auch in den Naturwissenschaften forciert.

Da ich weder in der Medizin, noch der Biologie besonders bewandert bin, erspare ich mir und euch jetzt den Versuch die technischen Details des vielfältigen Prozesses der Geschlechtsentwicklung darzustellen. Der Punkt ist, dass es immer wieder Bestrebungen gibt einzelne verantwortliche Aspekte, wie Marker in der DNA zu finden, die dann für die Ausprägung des Geschlechts in „weiblich“ und „männlich“ sorgen sollen. Allerdings gibt es inzwischen genügend Forschung, die veranschaulicht wie komplex dieser Prozess ist und wie viele unterschiedliche Einflussfaktoren es gibt. Nicht mehr ein bestimmtes Chromosom (Stichwort: XX, XY und die vermeintlichen Ausnahmen X0, XXY, etc.), oder ein bestimmtes Gen (z.B. SRY) sind für die gesamte geschlechtliche Entwicklung verantwortlich, sondern sie sind einzelne Faktoren in einem komplexen Prozess, in dem an vielen Stellen alternative Entwicklungen möglich sind.

Als Fazit für seine Ausführungen hält Voß schließlich fest:

“Es zeigt sich für die „Biologie des Geschlechts des Menschen“ klar und deutlich, dass Deutungen in Richtung vieler Geschlechter nicht nur ebenso berechtigt sind, vorkamen und vorkommen, wie solche in Richtung zweier Geschlechter, sondern dass sie aktuell überzeugendere Theorien für menschliche Geschlechtlichkeit liefern.” (Voß 2010b, 165)

Wer sich nun eingehender für die nitty-gritty details zu all diesen biologischen Prozessen und ihrer wissenschaftlichen Erforschung interessiert, wird um eine weiterer Lektüre und einen genaueren Blick in Voß’ Disseration nicht herumkommen.

Eine weitere wichtige Vertreterin vielfältigerer Geschlechtskonstruktionen, mit der wir auch in den Teilabschnitt zu Intergeschlechtlichkeit kommen, ist die bereits erwähnte kritische Biologin und Geschlechterforscherin Anne Fausto-Sterling.

Inter* / Intersex / Intergeschlechtlichkeit

Was hat es nun also mit diesen Geschlechtern und der Dichotomie auf sich? Im Grunde wissen wir ja schon aus alten Griechischen Sagen und aus unzähligen anderen historischen Quellen, dass es zumindest immer wieder Menschen gab und gibt, die nicht nur nicht eindeutig einem der beiden verordneten Geschlechter zuordenbar sind, sondern sogar eindeutig nicht zuordenbar sind. Also wieso ist das alles noch immer so neu und schmerzvoll (vor allem für jene, die gegen ihren Willen zugeordnet werden)?

Im Frühjahr 1993 erschien im Journal „The Sciences“ ein Artikel von Anne Fausto-Sterling unter dem Titel „The Five Sexes: Why Male and Female Are Not Enough“ (Fausto-Sterling 1993). Fausto-Sterling war seit 1986 bereits Professor of Medical Science an der Brown University. In ihrem Artikel stellt sie fest, dass aus rein medizinisch-biologischer Sicht zwei Geschlechter für eine solide wissenschaftliche Klassifikation nicht ausreichen und schlägt daher ein Klassifikationsmodell mit fünf Geschlechtern vor. Neben den bereits bekannten Geschlechtern „female“ und „male“ schlägt sie vor (und ich zitiere hier direkt aus dem genannten Paper):

  • herms: „the so-called true hermaphrodites, […] who possess one testis and one ovary“

  • merms: „the male pseudohermaphrodites […], who have testes and some aspects of the female genitalia but no ovaries“

  • ferms: „the female pseudohermaphrodites […], who have ovaries and some aspects of the male genitalia but lack testes“

Während das Abdrucken eines solchen Artikels in solch einem Journal einerseits z.B. fundamentalistische Christ:innen auf die gott-gebauten Barrikaden trieb, haben mitunter aber auch intersex Personen Kritiken daran formuliert, da dieses vorgeschlagene Klassifikationssystem verwirrend und erst wieder exkludierend ist. Dennoch war das Erscheinen solch eines (mitunter provokant gemeinten) Vorschlags in einem seriösen wissenschaftlichen Magazin ein wichtiger Impuls für weiterführende Auseinandersetzungen und Vernetzungen.

Auch Cheryl Chase, eine frühe Intersex Aktivistin in den USA, hat diesen Artikel gelesen und daraufhin umgehend einen Brief als Response auf den Artikel an The Sciences verfasst. In diesem verkündet sie die Gründung der ISNA, der Intersex Society of North America. Diese war die erste Vertretung für Patient:innenrechte von Intersex Personen.

Auch andere emanzipatorisch orientierte Wissenschafter:innen haben Kritik an Fausto-Sterlings Vorschlag vorgebracht. Diese wiederum hat im Jahr 2000 den von uns zur Vorbereitung gelesenen Artikel „The Five Sexes, Revisited“ in The Sciences veröffentlicht, in dem sie sowohl die Kritik einarbeitet und auch die vielen Veränderungen seit 1993, sowie das Entstehen von Intersex Bewegungen nachzeichnet. Eine Kritik, die auf die naturwissenschaftliche Neigung nach eindeutiger Klassifikation verweist, kam von der Psychologin Suzanne J. Kessler. Fausto-Sterling stimmt dabei mit dieser Kritik überein und zitiert sie im 2000er Artikel wie folgt:

„The limitation with Fausto-Sterling’s proposal is that … [it] still gives genitals … primary signifying status and ignores the fact that in the everyday world gender attributions are made without access to genital inspection. … What has primacy in everyday life ist the gender that is performed, regardless of the flesh’s configuration under the clothes.“ (Suzanne J. Kessler cited by Fausto-Sterling 2000, 22)

Daraus können wir in einer kritischen Reflexion für unsere eigenen Praxen den Gedanken mitnehmen, dass uns eine emanzipatorische Haltung gegen bestimmte unterdrückende, vereindeutigende Klassifikationen nicht notwendigerweise davor gefeit macht, in anderer Art und Weise selbst wieder zu vereindeutigen und damit gewisse gelebte Wahrheiten aus dem Kanon wissenschaftlicher Wahrheiten hinauszuschreiben. Aber darauf kommen wir später nochmal zurück.

Zum einen ist jetzt noch immer nicht klar, wieso das alles erst in den 1990ern passiert ist, und zum anderen sollten wir vielleicht erstmal die vielen Begrifflichkeiten klären, die in dieser Thematik auftauchen. Hier möchte ich wieder auf Heinz-Jürgen Voß zurückgreifen, der auch dazu ein sehr empfehlenswertes Büchlein verfasst hat: das 2012 im Unrast Verlag erschienene „Intersexualität – Intersex. Eine Intervention“ fasst sehr kompakt die Geschichte und aktuelle Situation zum Thema Intersex, mit einem Fokus auf Deutschland, zusammen. Entstanden ist das Buch unter anderem als Intervention gegen eine Ende Februar 2012 vom Deutschen Ethikrat veröffentlichte Stellungnahme „Intersexualität“, die zwar manche Anliegen von Intersex-Verbänden aufgreift und auch die gesellschaftliche zweigeschlechtliche Normierung kritisiert, aber gerade die zentralen Forderungen „nach dem Ende der chirurgischen und hormonellen medizinischen Eingriffe im frühen Kindesalter“ (Voß 2012, 6) nicht berücksichtigt. Auch die zahlreichen aktuellen Outcome-Studien (also Studien zur Evaluation der medizinischen Behandlung) wurden nicht miteinbezogen, die „Leid, Traumatisierung und Behandlungsunzufriedenheit der behandelten Intersexe“ klar belegen (ibid, 7). Das Buch ist also zum Einen eine Streitschrift für eine Betroffenen-zentrierte Gestaltung medizinischer und rechtlicher Rahmenbedingungen, zum Anderen aber auch eine ausgezeichnete Einführung in das Thema. Schauen wir uns also an, was wir hier zu den verschiedenen Begriffen vorfinden (vgl. Voß 2012, 9–12):

  • Hermaphroditismus: das ist der historisch älteste Begriff der uneindeutiges Geschlecht bezeichnet. Er geht auf alte griechische Mythen zurück, die vor allem in Ovids Metamorphosen nachgelesen werden können. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dieser Begriff, neben Zwitter und Zwittrigkeit, verwendet um in literarischen und wissenschaftlichen Texten uneindeutiges Geschlecht zu beschreiben. In medizinischen Klassifikationen wurde der Begriff bis vor wenigen Jahren noch verwendet.

  • Intersexualität / Intersex: im Gegensatz zu Hermaphroditismus wird hier davon ausgegangen, dass Menschen mit uneindeutigem Geschlecht zwischen den zwei Normgeschlechtern weiblich und männlich liegen. Daher dir Vorsilbe „inter“. Die Begriffe wurden 1915/16 von Richard Goldschmidt geprägt, der davon ausging, dass es beim Menschen prinzipiell eine „lückenlose Reihe“ geschlechtlicher Zwischenstufen gebe. Goldschmidt war übrigens auch einer jener vielen Vertreter vielfältigerer Geschlechtermodelle, der als Jude vor den Nazis fliehen musste und in den USA nicht mehr die Forschungsbedigungen vorfand, die nötig gewesen wären um seine Forschung fortzuführen und gegenüber anderen, weniger komplexen Modellen durchzusetzen (Voß 2010b, 144). Während der Nazi Adolf Butenandt – später Nobelpreisträger und Präsident der Max-Planck-Gesellschaft – die Hormonforschung mit vergleichsweise simplen Modellen der vergeschlechtlichenden Wirkung von Hormonen mitbestimmte, wurde Goldschmidt bis in die 1980er kaum rezipiert.

  • DSD / Disorders of Sex Development: Im Jahr 2005 fand eine internationale Konferenz in Chicago statt, deren Ergebnisse auch als Chicago Consensus bekannt und 2006 veröffentlicht wurden. Dabei ging es vor allem darum die sehr unterschiedlichen Begriffsverwendungen im medizinischen Kontext zu vereinheitlichen und medizinische Klassifikationen anzupassen – oder auf den neuesten Stand zu bringen. Mit diesen neuen Definitionen werden auch mehr Phänomene erfasst als bisher unter dem Begriff Intersex. Das Vorkommen von DSD ist daher größer als jenes von Intersex. Genaue Zahlen sind hier aber dennoch schwer anzugeben und reichen je nach Literatur von 1 in 5000 bis zu 2%. In diesem Chicago Consensus wurde auch auf viele Kritiken aus Intersex-Verbänden eingegangen. Letztere bezeichnen diese Konferenz und den Consensus durchaus auch als Erfolg in Richtung einer Patient:innenorientierteren Behandlung. Der Begriff DSD wird allerdings von vielen Intersex-Verbänden abgelehnt, da er pathologisierend wirkt und das Gewicht darauf legt, dass hier eine Störung vorliegt, die behoben werden müsste.

  • Intergeschlechtlichkeit / Intersex / inter*: Hier geht es vor allem um assoziative Zuschreibungen, die vor allem von weniger informierten Personen gegenüber dem Begriff Intersexualität gemacht werden. Intersex-Verbände schlagen also die Verwendung von Intersex oder Intergeschlechtlichkeit bzw. inzwischen oft auch nur inter* vor, da das Phänomen ja prinzipiell nichts mit dem sexuellen Begehren einer Person zu tun hat.

Abgesehen von diesen Begriffen, die immer auch mit einem medizinischen Kontext verknüpft sind, könnten wir auch ganz allgemein von uneindeutigem Geschlecht sprechen um geschlechtliche Konfigurationen zu beschreiben, die nicht eindeutig dem Schema „weiblich“ oder „männlich“ entsprechen. Dies wäre vermutlich die umfassendste Variante, die allerdings auch schon auf die Frage verweist, was Eindeutigkeit in diesem Kontext überhaupt bedeutet und wieso das überhaupt wichtig wäre. Ich würde aber jedenfalls vorschlagen den von den Intersex-Verbänden vorgeschlagenen Begriff zu verwenden und werde daher in Anlehnung an die FAQ des Vereins Intergeschlechtlicher Menschen Österreich (VIMÖ 2023) in weiterer Folge von inter* sprechen. DSD verwende ich nur da, wo es explizit um die aktuelle medizinische Definition geht – mensch könnte sich ja durchaus auch fragen, wieso das nicht etwa VSD genannt wurde, z.B. für Variations of Sex Development (VIMÖ verwendet synonym zu inter* im Übrigen auch “Variationen der Geschlechtsmerkmale”). Ein weiteres Beispiel, wie gewisse gesellschaftliche Normen in vermeintlich objektive Naturwissenschaften eingeschrieben werden.

Aber um das alles klar zu machen ist es auch wichtig zu verstehen, dass die meisten Intersex-Phänomene nie eine gesundheitliche Gefährdung darstellen. Diese wird erst von Expert:innen so konstruiert. Nur in sehr wenigen Fällen ist tatsächlich eine akute gesundheitliche Gefährdung gegeben, die einen entsprechenden medizinischen Eingriff notwendig macht. Um das klarer zu machen, vielleicht ein paar Beispiele von Zuständen die nun in der Medizin als DSD beschrieben werden. Hier beziehe ich mich auf Slides von Bettina Enzenhofer, die das in ihrer Master Arbeit von 2011 auch im Detail ausführt (vgl. Enzenhofer 2011):

  • Adrenogenitales Syndrom (AGS): stellt die Hälfte der Fälle von Neugeborenen mit „uneindeutigen Genitalien“ dar. Während die inneren Genitalien weiblich sind (Eierstöcke, Eileiter, Gebärmutter), kommt es im Fall von AGS bei Neugeborenen mit XX-Chromosomen zu einer „Virilisierung“ (das heißt „Vermännlichung“) der äußeren Genitalien. Bei vorhandenem XY-Chromosom kann AGS auftreten, allerdings ist das Genital hier meist unauffällig. AGS kann in einer schweren Form in Kombination mit Salzverlust auftreten, was bis zu Herzstillstand führen kann. Dies ist eine der wenigen Konditionen die tatsächlich einen medizinischen, operativen Eingriff akut notwendig machen. Dabei sind aber jedenfalls nicht die „virilisierten“ Genitalien das Problem sondern der Salz-/Wasserhaushalt. Am häufigsten tritt aber AGS als „Late-onset“-AGS auf, das erst zwischen Pubertät und Erwachsenenalter diagnostiziert wird.

  • Androgeninsensitivität: bei einer kompletten Androgeninsensitivität (bei 46,XY-Karyotyp) sind zwar Androgene vorhanden, wirken sich aber nicht derart aus, dass äußere Genitalien „virilisiert“ werden und damit weiblich aussehen. Entsprechend werden Personen mit dieser Konfiguration üblicherweise als weiblich definiert und die Diagnose wird erst ab der Pubertät gestellt (z.B. weil die Menstruation ausbleibt, da die inneren Geschlechtsorgane nicht wie bei XX-Frauen ausgestaltet sind). Bei nur partieller Androgeninsensitivität können Androgene nur vermindert auf eine „Virilisierung“ wirken. Je nach Grad können überwiegend „weibliche“ bis überwiegend „männliche“ Genitalien entstehen.

  • Gonadendysgenesie: in der gemischten Form die zweithäufigste Ursache von „uneindeutigen“ Genitalien. Auch der Phänotyp ist in allen Zwischenstufen möglich.

  • Hypospadie: ist eine sehr häufige DSD Form bei der die Harnröhre nicht an der Spitze des Penis, sondern unterhalb mündet. Galt früher nicht als Form von Intersex, wird aber seit dem Consensus Statement als Form von DSD geführt.

  • Klinefelter Syndrom: bedeutet einen Karyotyp 47,XXY sowie eine Unterentwicklung der Hoden und eingeschränkte Testosteronproduktion. Diese Form ist relativ häufig, aber nur selten diagnostiziert. Auch diese galt früher nicht als Form von Intersex, wird aber seit dem Consensus Statement als Form von DSD geführt.

  • Generell gibt es, wie wir bei den medizinischen / biologischen Definitionen von Geschlecht gesehen haben eine Vielzahl von Möglichkeiten wie unterschiedliche geschlechtliche Komponenten kombiniert werden können. Nicht alle sind so auffällig, dass sie bei der Geburt diagnostiziert werden. Manche werden auch nie diagnostiziert.

Es gibt also sehr unterschiedliche Geschlechtsentwicklungen, die nicht einer eindeutig „weiblichen“ oder „männlichen“ Geschlechtsentwicklung entsprechen. Abgesehen davon, dass sich die Frage ergibt, wieso medizinisch-chirurgische Eingriffe überhaupt notwendig sind, ist es in vielen Fällen sehr schwer einzuschätzen ob die Betroffenen wohl eher als männlich oder als weiblich einzustufen sind. Und wiederum abgesehen davon kann ja ohnehin niemensch die spätere Gender-Identität einer Person voraussagen – egal ob hier eine Intersex-Kondition vorliegt oder nicht.

In ihrer Master Arbeit hat sich Bettina Enzenhofer 18 medizinische Texte in diesem Bereich angesehen, die im Zeitraum von 2006 bis 2011 veröffentlicht wurden (Enzenhofer 2011). Darin werden auffällig oft Begriffe wie „normal“ oder „abnormal“ verwendet, ohne dass diese genau definiert werden. Es wird einfach vorausgesetzt, dass es so etwas wie „normale Männer“ und „normale Frauen“ gibt. Biologisches Geschlecht wird dabei generell sehr spärlich definiert. Auch wenn sich einige Dinge gebessert haben und Homosexualtität zumindest nicht mehr als Zeichen für eine falsche Gender-Identität gewertet wird, sind ein Zweigeschlechtermodell, sowie Androzentrismus und Heteronormativität sehr klar in diese Texte eingeschrieben. Und wenn auch weibliche Genitalchirurgie nicht mehr bagatellisiert wird und der funktionelle Outcome anstatt der kosmetischen Erscheinung betont wird, empfehlen manche Autor:innen eine Verkleinerung der Klitoris bei „schwerer Virilisierung“. Dazu schreibt Enzenhofer weiter, und das finde ich ist eine sehr wichtige Anmerkung:

„Dass eine Klitoris überhaupt chirurgisch verkleinert wird, ist immer kosmetisch und kulturell bedingt und steht im Widerspruch zur oft besprochenen Gewichtigkeit der sexuellen Zufriedenheit. Außerdem zeigt die Diskussion darüber, unter welchen Umständen eine als zu groß erachtete Klitoris verkleinert werden solle, einen Aspekt der Zweigeschlechternorm: Die Ausprägung der Genitalien wird polarisiert gedacht.“ (Enzenhofer 2013, unveröffentlichte Vorlesungsfolien)

Generell waren die Behandlungsempfehlungen für inter* Personen in den 1990ern geprägt von dem, was John Money, Joan G. Hampson und John L. Hampson in den 1950er Jahren erarbeitet haben. Dabei lagen die besonders prüden und homophoben gesellschaftlichen Verhältnisse der USA zu dieser Zeit zugrunde. Insbesondere John Money ist unter anderem auch für die Behandlung transsexueller Personen bekannt geworden. Vorstellungen davon, dass mit der richtigen körperlichen Geschlechtsanpassung Homosexualität geheilt werden könnte leiteten dabei die Behandlungen. Dass die erzielten Ergebnisse dann oft nicht den Wünschen der Betroffenen entsprachen brauche ich nun hoffentlich nicht mehr weiter ausführen.

Ungefähr dreißig Jahre später, in den 1990ern, also zu dem Zeitpunkt als die Betroffenen der Behandlung durch Money et al. erwachsen waren, begann sich dann die Intersex Bewegung zu formieren. Einen wichtigen Ausgangspunkt, Fausto-Sterling’s Artikel zu The Five Sexes und Cheryl Chase’s Reaktion, habe ich schon erwähnt. Abseits des US-Amerikanischen Kontexts formierten sich auch andernorts Intersex-Bewegungen. Im deutschsprachigen Raum gründeten Intersex Personen ebenso in den 1990ern erste Interssensvertretungen, die insbesondere die medizinischen Behandlungen kritisierten (und nach wie vor kritisieren). Aber ich möchte hier nicht nur für oder über inter* Personen sprechen, sondern auch inter* Personen selbst zu Wort kommen lassen. Klar ist dabei auch, dass es nicht DIE “Intersexe” gibt, sondern dass auch inter* Personen sehr unterschiedliche Meinungen dazu haben können, wie sie behandelt werden wollen und sollten, und was gut für sie ist.

Ich möchte mich dabei vor allem auf inter* Aktivist:innen beziehen, die eine emanzipatorische, das heißt auch selbstbestimmte Haltung in dieser Thematik einfordern. Konkret möchte ich einen kurzen Abschnitt einer Rede von Michel Reiter zitieren, die er im Juni 2000 in Berlin am Kongress der european federation of sexology gehalten hat. Diese wurde in gekürzter Fassung auch in der Ausgabe 9 für September/Oktober 2000 der GiGi – Zeitschrift für sexuelle Emanzipation archiviert. Diese ist zudem auch wieder für unser letztes Thema, das public engagement in/with science interessant. Hier Michel Reiters Worte:

„Wärst Du lieber ein Junge geworden”, wird das Kind von einer Psychologin gefragt. “Nein”, antwortete es, “dann müßte ich tun, was die Jungen tun müssen und als Mädchen muß ich tun, was man von Mädchen erwartet.” Was will uns diese Antwort sagen? Nichts, außer daß dieses Kind gelernt hat, wie man richtig zu antworten hat, um sich zusätzlichen Ärger zu ersparen. In die medizinischen Akten wird der Befund eingehen: “Frisches, schlankes Mädchen, das im Alter von 11 Jahren jetzt genau die durchschnittliche Größe und das durchschnittliche Gewicht aufweist.” Gut gelungenes Frischfleisch, zudem jenseits aller Erwartungen belastbar, denn Hochleistungssport, 17 operative Eingriffe, Medikation mit Dexamethason, hunderte gynäkologische Untersuchungen und Blutabnahmen, Handröntgen- und Genitalnahaufnahmen sowie permanente psychologische Kontrollen müssen wirklich überlebt werden. Was aber sagt uns diese Quantität der Eingriffe, die einzig dem offiziellen Ziel einer heterosexuellen Funktionsfähigkeit und der Idee einer vereindeutigten Geschlechtsidentität geschuldet sind? Nichts, außer einer Anleitung, wie man Menschen psychisch brechen kann und Menschenversuche diskret formuliert.

Der Mensch, von dem hier die Rede ist, steht heute vor Ihnen. Nach 14 Jahren Verzögerung, analog der Dauer jener sogenannten Behandlungen, hat er gelernt, sich zu artikulieren. Die medizinischen Texte sind bekannt und ihr Inhalt ist indiskutabel, da ein entmenschlichter, pathologischer Blick per se keine Erkenntnis zuläßt. Das Bundesministerium für Gesundheit sagt es deutlich: In den 60er Jahren wurde versucht, ein körperliches Phänomen in den Griff zu bekommen. Dieses Vorhaben aber ist nicht gelungen, denn Brachialgewalt, die bereits in frühen Jahren beginnt, Geschlechterkonfusion der Eltern und fehlgeleitete Medikation können nur zum Gegenteil des Angestrebten führen. Heino Mayer-Bahlburg irrt gewaltig, wenn er konstatiert: “Will man die Risiken späterer Geschlechtsanpassungen minimieren […], sind Frühdiagnose und eine frühzeitige chirurgische Korrektur der äußeren Genitalien […] auch weiterhin wichtig.” (Reiter 2000)

Zur Entwicklung des Diskurses seit Entstehen der Intersex-Bewegung setzt Reiter fort (ibid):

Werden Kritiken an den geschlechtlichen Assimilationsmethoden laut, wie in den USA seitens der Intersex Society of North America (ISNA) oder der AGGPG in Deutschland formuliert, versucht man diese zuerst zu Spinnern zu erklären; und nützt dies nichts, werden Übernahmeangebote an die Aktivisten getätigt, indem man ihnen eine wissenschaftliche Karriere in Aussicht stellt und sie an einer Modifikation ihrer Behandlungen beteiligt. Gleichfalls versichert man, vor allem gegenüber der Öffentlichkeit, die Eingriffe humaner zu gestalten, indem die Quantität der chirurgischen Eingriffe reduziert, ihre Qualität und eine psychotherapeutische Hilfeleistung dagegen expandiert werden. Beweise für diese Behauptungen werden nicht geliefert. Man spricht von Fehlern in der Vergangenheit und den technischen Weiterentwicklungen heute und in Zukunft. Daß es dabei ungebrochen um des Gärtners Vorstellungen geht, um viel Geld und Forschungsmaterial, um Prestige und Macht, aber niemals um den Menschen, fällt dort nicht weiter auf, wo die erwachsenen Konsumenten, namentlich die Eltern hermaphroditischer Kinder und allgemein der Geschlechterpartizipanten, an Geschlechterbildern, Glück und Normativität glauben wollen und der Staatsapparat seine von ihm kreierten sozialen Probleme an Normierungsinstanzen delegiert. (ibid)

So, das war jetzt mal vielleicht etwas harter Tobak. Und das ist jetzt auch schon über 20 Jahre her. Seitdem hat sich zwar einiges getan, aber die grundlegenden Haltungen sind oft nach wie vor gleich. Heinz-Jürgen Voß schreibt dazu auch, dass es nach wie vor ein breites Motiv gibt „auf aktuelle und zukünftige Entwicklungen zu verweisen, die allerdings erst später evaluiert werden könnten“ (Voß 2012, 20).

Im Jahr 2011 erst wurde von Intersex-Verbänden ein Schattenbericht erarbeitet und dem UN-Ausschuss zur Überwachung des „Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau“ übergeben. Nach eingehender Prüfung des Berichts forderte dieser UN-Ausschuss die deutsche Bundesregierung auf „Maßnahmen zu ergreifen, die den Schutz der Menschenrechte von Intersex-Personen in der Bundesrepublik Deutschland sichern.“ (ibid) Darauf hin kam es zu der bereits vorher erwähnten Stellungnahme des Deutschen Ethikrats. Nochmal zur Erinnerung: in diesem wird zwar die gesellschaftliche zweigeschlechtliche Normierung kritisiert, aber gerade die zentralen Forderungen „nach dem Ende der chirurgischen und hormonellen medizinischen Eingriffe im frühen Kindesalter“ (Voß 2012, 6) werden nicht berücksichtigt.

Ein weiteres emanzipatorisches Streiten für geschlechtliche Selbstbestimmung bleibt also weiter bitter nötig. In Österreich gibt es dazu seit Ende 2013 die Plattform Intersex Österreich, im Web unter http://www.plattform-intersex.at zu finden. Diese ist ein unabhängiges Netzwerk des Vereins Intersexueller Menschen Österreich (im Web unter http://vimoe.at) sowie NGOs, Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen. Falls ihr euch also weiter mit dem Thema auseinandersetzen wollt, da gibt es genug Material und Kontakte.

Bevor ich jetzt zum nächsten Thema komme, möchte ich noch die „Suggested Guidelines for Non-Intersex Individuals Writing about Intersexuality and Intersex People“ erwähnen, die von Emi Koyama von der Intersex Initiative zusammengefasst wurden, weil es im emanzipatorischen und solidarischen Streiten wichtig ist Dinge nicht nur gut zu meinen, sondern auch die eigenen Positionen und Privilegien zu reflektieren:

  1. Recognize that you are not the experts about intersex people, intersexuality, or what it means to be intersexed; intersex people are. When writing a paper about intersexuality, make sure to center voices of intersex people.

  2. Critically approach writings by non-intersex “experts” such as doctors, scientists, and academics about intersexuality or intersex people if you decide to quote or cite them. That is, consider what the author’s perspective and agenda are, and where his or her knowledge comes from.

  3. Do not write about intersex existence or the concept of intersexuality without talking about the lives and experiences of intersex people as well as issues they face. Do not use intersex people merely to illustrate the social construction of binary sexes.

  4. Do not judge the politics and narratives of intersex people or movement based on how useful they are to your political agenda (or agendas). Intersex people are no more responsible for dismantling gender roles or compulsory heterosexuality than anyone else is.

  5. Be aware that writings by intersex people are often part of conversations within the intersex movement and/or with other communities, including the medical community. Realize that intersex people’s words may be addressing certain constituencies or political agendas for which you do not have access to the full context.

  6. Do not conflate intersex experiences with lesbian, gay, bisexual or trans (LGBT) experiences. You may understand what it might feel to grow up “different” if you are part of the LGBT community, but that really does not mean you understand what it means to grow up intersexed.

  7. Do not reduce intersex people to their physical conditions. Depict intersex people as multidimensional human beings with interests and concerns beyond intersex issues.

  8. Focus on what looking at intersexuality or intersex people tells you about yourself and the society, rather than what it tells you about intersex people. Turn analytical gaze away from intersex bodies or genders and toward doctors, scientists, and academics who theorize about intersexuality.

  9. Do not represent intersex people as all the same. How people experience being born intersex is at least as diverse as how people experience being born non-intersex, and is impacted by various social factors such as race, class, ability, and sexual orientation, as well as actual medical conditions and personal factors. Do not assume that one intersex person you happen to meet represents all or even most intersex people.

  10. Assume that some of your readers will themselves be intersex, and expect that you may be criticized by some of them. Listen to intersex people when they criticize your work, and consider it a gift and a compliment. If they thought that you had nothing to contribute, they would not bother to engage with you in the first place.

  11. Remember: five children are being mutilated every day in the United States alone. Think about what you can do to help stop that.

Trans* / Transgender / Transsexualität

Ähnliche Guidelines wie jene vorhin für das Schreiben oder Sprechen über inter* Personen gibt es auch für trans* Personen. Bzw. sind die oben genannten Guidelines von Emi Koyama direkt inspiriert von Jacob Hale’s „Suggested Rules for Non-Transsexuals Writing about Transsexuals, Transsexuality, Transsexualism, or Trans ____.“ Diese führe ich aber jetzt hier nicht auch noch an, das Prinzip ist ja vermutlich klar geworden. Ihr könnt diese Suggested Rules aber zum Beispiel auf Sandy Stones Website nachlesen: http://www.sandystone.com/hale.rules.html.

So, aber was ist das jetzt eigentlich: Trans*, Transgender, Transexualität? Wo wir es bisher vor allem mit körperlich uneindeutigem oder nicht eindeutig einem dichotomen Frau-Mann-Schema zuordenbare Personen ging, geht es jetzt um Personen bei denen erstmal körperlich ja alles ganz in Ordnung zu sein scheint – also ganz im Sinne eines heteronormativen Zweigeschlechtermodells. Trans* Personen kommen wie fast alle anderen Leute auf die Welt und werden ohne große weitere Überlegungen in eine der Kategorien weiblich oder männlich gesteckt – weil ihr Körper das so vorzugeben scheint. Erst irgendwann im Laufe ihrer Sozialisation (das kann im frühen Kindesalter oder aber auch erst in der Pension sein) bemerken trans* Personen, dass sie irgendwie nicht so ganz in dieses Schema passen oder gar einfach dem jeweils „anderen“ Geschlecht (nachdem wir ja offiziell nur zwei davon haben) angehören wollen.

Wenn wir uns nun anschauen wie die Medizin damit umgeht, dann finden wir hier im Gegensatz zur Auseinandersetzung mit Intersexualität einen weniger auf körperliche “Störungen” fokussierten Umgang als eher einen auf psychische “Störungen” fokussierten Umgang. Klarerweise gibt es immer auch Überschneidungen mit inter* Diskursen, wenn es um die geschlechtliche Selbstbestimmung sowie um operative Zwangsmaßnahmen geht, prinzipiell sind das aber unterschiedliche emanzipatorische Kämpfe die hier geführt werden müssen – wobei sie sich gut für solidarische Allianzen eignen. Aber allein im Feld von trans*, Transgender, Transsexualität (allein, dass ich hier schon mal drei Begriffe anführe ist ein Ausdruck dessen) gibt es sehr unterschiedliche Positionen, Wünsche und Auseinandersetzungen.

Ich versuche also erst einmal die Begriffe zu klären und tue dies anhand des Glossars aus dem Sammelband „Stop Trans*-Pathologisierung. Berliner Positionen zur Internationalen Kampagne.“, herausgegeben von Anne Allex, und 2014 bereits in dritter Auflage erschienen (Allex 2014, 13–17):

  • Transgender – Gegenteil von Cisgender, Oberbegriff für alle Personen, für die das gelebte Geschlecht keine zwingende Folge des bei Geburt zugewiesenen Geschlechts ist oder die sich mit diesem nicht identifizieren können, sowie Selbstbezeichnung von Personen, die ihre Geschlechtsidentität jenseits der „Zwei-Geschlechterordnung“ leben und damit eine unterstellte Geschlechtergegensätzlichkeit von Frau und Mann in Frage stellen.“

  • Cisgender – Menschen, deren Geschlechtsidentität mit ihrem körperlichen Geschlecht übereinstimmt.“

  • Transfrauen – Menschen, die bei Geburt dem männlichen Geschlecht zugewiesen werden, sich aber nicht damit identifizieren können, sondern sich eher dem weiblichen Geschlecht zugehörig fühlen. (MzF, d.h. Mann zu Frau) -> Synonym für ‘transsexuell’“

  • Transmänner – Menschen, die bei Geburt dem weiblichen Geschlecht zugewiesen werden, sich aber nicht damit identifizieren können, sondern sich eher dem männlichen Geschlecht zugehörig fühlen. (FzM, d.h. Frau zu Mann) -> Synonym für ‘transsexuell’“

  • Transsexuelle – medizinische Bezeichnung von Personen, die mittels „geschlechtsangleichenden“ Operationen und/oder Hormonen ihren Körper verändern, um im „Gegengeschlecht“ des ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlechts zu leben. -> Umschreibung: „Ich bin im falschen Körper geboren.“ Dies wird angeblich als leidvoll erfahren. Es werden (mehr oder weniger) körperliche Veränderungen vorgenommen, um den Körper an die gefühlte Geschlechtsidentität anzugleichen. Daher ist heute in „Fachkreisen“ der Begriff „transidentisch“ gebräuchlicher.“

  • transidentisch – medizinisch-psychiatrische Bezeichnung von Personen, die sich mit dem „Gegengeschlecht“ des ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlechts identifizieren, um ihren Körper mit Hormonen oder/und „geschlechtsangleichenden“ Operationen zu verändern, „modernere“ Bezeichnung für „transsexuell“, um den identitären Aspekt hervorzuheben.“

  • Transvestiten – Selbst- und Fremdbezeichnung meist heterosexueller Männer, die gelegentlich weibliche Kleidung anziehen und so die Weiblichkeit in ihrer Persönlichkeit ausleben. Ihre Geschlechtsidentität ist oft nicht weiblich; sie ziehen sich die Rolle „Frau“ nur an. Weil „Transvestit“ sexuell aufgeladen und negativ besetzt ist, wird er bei Selbstbezeichnung oft durch „Crossdresser“ ersetzt.“

  • Trans* – Überbegriff, der sich auf all die Menschen bezieht, deren Geschlechtsidentität und/oder Geschlechtsausdruck sich unterscheidet von dem Geschlecht, das ihnen bei Geburt zugeordnet wurde. Dies umfasst Menschen, die sich als Transsexuelle, transidentisch, Transgender, Transvestit/Crossdresser, androgyn, Polygender, Genderqueer, No-gender, Gender variant oder mit irgendeiner anderen Geschlechtsidentität, die nicht dem Standard „Mann“ oder „Frau“ entspricht und die ihr Geschlecht in der Wahl ihrer Bekleidung, Darstellung oder Körpermodifizierung ausdrücken, was verschiedene chirurgische Eingriffe einschließen kann aber nicht muss.“

  • Trans-Pathologisierung* – Menschen, die sich nicht mit dem bei der Geburt festgeschriebenen Geschlecht identifizieren und dies juristisch („Personenstandsänderung“) und/oder mit medizinischen Maßnahmen („Geschlechtsangleichung“) ausdrücken wollen, werden in der Bundesrepublik (und fast weltweit) als „psychisch gestört“ angesehen, da sie sich einem Verfahren unterziehen müssen, das sie als „psychisch krank“ kennzeichnet.“

  • queer – (englisch: Schmutz, Dreck, pervers o.Ä.), ursprünglich im anglo-amerikanischen Kulturraum: kämpferische Selbstbezeichnung einer Beschimpfung von Aktivist_innen zur Kennzeichnung der Ablehnung von allen sozialen, geschlechtlichen und sonstigen Identitäts- und Rollenzuweisungen. Im Deutschen von Teilen der schwul-lesbischen Bewegung fälschlich als Eigenbezeichnung („schwul“-“lesbisch“) angeeignet; inzwischen zum Mode- und Partylabel verkommen.“

  • trans – lateinisch: jenseits“

Hier sehen wir auch, wie schnell sich das Thema Geschlecht zur Zeit entwickelt. Keine 10 Jahre nach dieser Veröffentlichung würden wir in dieser Aufzählung ohne zumindest eine Nennung von nicht-binären Positionen nicht mehr auskommen. Und je nachdem ob und in welchen queeren Kontexten ihr euch ab und an bewegt, werden euch manche der Begriffe bereits etwas outdated erscheinen.

Am wichtigsten finde ich aber in der Aufzählung oben (die Reihung der Begriffe kam in dem Fall von mir) den letzten Begriff: das trans, das erstmal nur jenseits bedeutet. In geschlechterbasierten Diskursen sollten wir uns dabei immer auch auf dieses trans zurückbesinnen, als Hinweis auf eine persönliche als auch eine wissenschaftliche Haltung, die über das Eigene hinausgeht und nicht Annahmen auf Basis verkürzter, aber normal erscheinender Klassifikationen, Vorurteile, Beobachtungen etc. trifft. Denn auch ich als trans* Person kann nicht behaupten für trans* Personen zu sprechen. Ich kann für mich sprechen und das wiedergeben, was ich in vielen Auseinandersetzungen mit anderen erfahren habe. Das könnte womöglich mehr Interaktionen mit anderen trans* Personen und Themen involvieren als das bei cis Personen der Fall ist, aber das kann in manchen Fällen auch ganz umgekehrt sein. Und genau das gilt aber auch für die meisten anderen Themen. Insofern sollten wir nicht nur wenn es um trans* Themen geht, oder um inter*, oder Gender im Allgemeinen dieses trans im Hinterkopf behalten, sondern wenn es um Wissenschaft ganz allgemein geht. Aber das ist jetzt ein Exkurs den ich hier in der Kürze nicht weiter ausführen kann und insofern als kleinen Wunsch stehen lasse.

An der Vielzahl der Begriffe, und das waren ja bei weitem nicht alle wichtigen Begriffe in dieser Thematik, sehen wir schon die Komplexität des Ganzen. Und dann ist das mit so Glossareinträgen ja auch immer so eine Sache. Julia Serano hat in ihrem Buch „A transsexual woman on sexism and the scapegoating of femininity“ sehr passende Worte dafür:

„Books and websites that discuss transgenderism and transsexuality often include some kind of glossary, where these terms are laid out and defined in a nice, orderly, alphabetical fashion. However, a potential problem with the glossary approach is that it gives the impression that all of these transgender-related words and phrases are somehow written in stone, indelibly passed down from generation to generation. This is most certainly not the case. Many of the terms used these days to describe transgender people did not exist a decade ago. Conversely, many of the terms that were commonly used a decade ago are now considered to be out of fashion, outdated, or even offensive to many people in the transgender community. Even the terms that are used frequently today are regularly disputed, as individual transgender people may define words in a slightly different manner or have aesthetic or political preferences for certain words over others.“ (Serano 2007, 23)

Und auch hier gilt, ebenso wie beim Thema Intersex: es gibt nicht DIE Transgenders, und ich würde auch sagen nicht DIE Transgender Community (wie es hier beim Text von Serano suggeriert wird), sondern immer eine Pluralität davon, zumal von unterschiedlich Betroffenen auch manchmal sehr unterschiedliche Kämpfe geführt werden müssen. Hier wird wieder sichtbar, wieso es wichtig ist eine intersektionale Perspektive einzunehmen. So gibt es zum Beispiel ein Phänomen, das oft einfach als Transphobie abgetan wird, aber noch viel tiefer in unserer patriarchalen Gesellschaft verwurzelt ist. Das geht so weit, dass auch viele emanzipatorisch Streitenden als auch Trans* Personen verinnerlichte Unterdrückungsformen weitergeben. Es geht um das Phänomen der Trans-Misogynie, von der ich es wichtig halte, dass sie explizit erwähnt wird. Auch das bringt Julia Serano sehr prägnant auf den Punkt:

„When a trans person is ridiculed or dismissed not merely for failing to live up to gender norms, but for their expressions of femaleness or femininity, they become the victims of a specific form of discrimination: trans-misogyny. When the majority of jokes made at the expense of trans people center on „men wearing dresses“ or „men who want their penises cut off,“ that is not transphobia – it is trans-misogyny. When the majority of violence and sexual assaults committed against trans people is directed at trans women, that is not transphobia – it is trans-misogyny. When it’s okay for women to wear „men’s“ clothing, but when men who wear „women’s“ clothing can be diagnosed with the pyschological disorder transvestic fetishism, that is not transphobia – it is trans-misogyny. When womens’s or lesbian organizations and events open their doors to trans men but not trans women, that is not transphobia – it is trans-misogyny.“ (Serano 2007, 14–15, Hervorhebungen im Original)

Diesen Hinweis finde ich deshalb so wichtig, weil er klar macht, dass wir unsere feministischen Brillen nicht einfach ablegen, wenn wir uns mit queeren Themen beschäftigen. Ganz im Gegenteil, wir müssen uns einfach viele verschiedene Brillen zulegen und die Dinge immer mit allen betrachten, manchmal sogar so verspielt sein, zwei Brillen übereinander aufzusetzen. Im wissenschaftlichen Terminus würden wir nun sagen, wir müssen intersektionale bzw. interdependente Analysen vornehmen. Insofern kann ich jetzt ohne längere Ausführungen nur anmerken, dass trans* Women of Colour auch nochmal ganz anders Betroffen sind, als dies in weißen trans* Communities erfahren wird.

Leider gibt es zu viele Geschichten und zu viele Ebenen der Unterdrückung um das hier in der Kürze alles darzulegen. Eine sehr gute Quelle ist aber der schon zitierte Sammelband „Stop Trans*-Pathologisierung“. Auf theoretisch-wissenschaftlicher Ebene hat sich, seit Sandy Stone 1987 ihr Posttranssexual Manifesto veröffentlicht hat, einiges getan. Inzwischen gibt es die Transgender Studies als etabliertes Forschungsfeld im Bereich der LGBT und Queer Studies. Und erst diese diskursive Pluralisierung, die Stimmen und Positionen wahrnehmbar gemacht hat, die bis dahin auch von vielen Betroffenen selbst totgeschwiegen wurden, führt in weiterer Folge auch dazu, dass sich Personen selbstbestimmter in ihrer geschlechtlichen Positionierung agieren können und dass der gesellschaftliche Zweigeschlechter-Zwang und Genital-Fetisch zumindest teilweise gelockert werden und Menschen ohne grobe fremdverschuldete physische Zurichtungen in ihren Nischen leben können. Wenn ihr mehr dazu wissen wollt, wie diese psycho-medizinischen Zurichtungen funktionieren, kann ich nur empfehlen, das Posttranssexual Manifesto von Sandy Stone zu lesen (Stone 1987).

Nachdem ich jetzt aber schon viel zu lang geplaudert habe, möchte ich nur noch kurz auf die rechtliche Entwicklung und die aktuelle Situation hinweisen, bevor ich dann mit einem kurzen Fazit schließe.

Bis vor ca. 15 Jahren gab es in fast allen europäischen Ländern zwar die Möglichkeit den eigenen Namen und/oder den Personenstand, also den Geschlechtseintrag zu ändern, allerdings in fast allen Fällen nur unter schweren Einschränkungen, die da wären: Unzählige Untersuchungen und psycho-medizinische Gutachten, Zwang zur Sterilisation, Zwang zur geschlechtsanpassenden Operation, im Falle von Ehen Zwang zur Scheidung. Diese bestanden in unterschiedlichen Konfigurationen und bestehen teilweise auch weiterhin noch. Eine ausführliche Zusammenfassung zur rechtlichen Entwicklung in Österreich und den aktuellen Entwicklungen in Europa könnt ihr auch auf der Website von TransX einsehen (http://transx.at/Pub/Rechtsentwicklung.php). Dort ist auch nachzulesen, dass es in Österreich seit dem Transsexuellen-Erlass von 1983 möglich ist den Geschlechtseintrag zu ändern. Interessanterweise wurde dabei rechtlich kein Zwang zu Operationen vorgeschrieben, lediglich ein Gutachten des Instituts für Gerichtsmedizin der Universität Wien musste nachgewiesen werden. Dieses musste nur erweisen, dass:

  • der Antragsteller oder die Antragstellerin längere Zeit unter der zwanghaften Vorstellung gelebt hat, dem anderen Geschlecht zuzugehören, was ihn oder sie veranlaßt hat, sich geschlechtskorrigierender Maßnahmen zu unterziehen;

  • diese Maßnahmen zu einer deutlichen Annäherung an das äußere Erscheinungsbild des anderen Geschlechts geführt haben;

  • mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen ist, daß sich am Zugehörigkeitsempfinden zum anderen Geschlecht nichts mehr ändern wird.

Wie wir der Darstellung von TransX entnehmen können setzte allerdings das Institut für Gerichtsmedizin, „im Konkreten Frau Dr. Friedrich, auf die die Entscheidungskompetenzen übertragen wurden, […] jedoch ohne jegliche rechtliche Grundlage genitalanpassende Operationen für die Bestätigung der „Annäherung des äußeren Erscheinungsbildes“ voraus.“ (ibid) Das bedeutete unter anderem Entfernung von Penis und Hoden, bzw. von Gebärmutter, Eierstöcken und Brüsten. Ähnlich sah die Situation in den meisten anderen Ländern aus, wobei dies dort zumindest rechtlich vom Gesetzgeber geregelt und nicht der Willkür einzelner medizinischer Instanzen überlassen wurde. Das machte das ganze aber auch nicht unbedingt besser, höchstens ein bisschen transparenter.

Nach unzähligen Interventionsversuchen und Klagen fiel in Österreich dann 2009 der Operationszwang, nach einem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs. Das heißt, bis vor ein paar Jahren mussten sich Trans* Personen, wenn sie einen anderen Geschlechtseintrag in ihren Dokumenten haben wollten, einem massiven körperlichen Eingriff unterziehen. In vielen anderen europäischen Ländern gab es seit 2000 ähnliche Entwicklungen. Besonders zu erwähnen sind jedoch:

  • Großbritannien, wo der Vorname schon immer frei gewählt werden konnte und trans* Personen auch Ausweise mit passendem Geschlechtseintrag ausgestellt bekommen haben

  • Argentinien hat 2012 das bis dahin weltweit vorbildlichste Gesetz zur Anerkennung der Geschlechtsidentität verabschiedet, das sich explizit auf die Meschenrechtsprinzipien von Yogyakarta bezieht und eine entpathologisierende Perspektive einnimmt.

  • Dänemark hat 2014 einen Personenstand nach argentinischem Vorbild beschlossen. Weder werden medizinische Eingriffe, noch psycho-psychiatrische Gutachten, noch Scheidungen verlangt.

  • In den Jahren danach ziehen viele weitere europäische Länder nach, und er lassen ähnliche Gesetze, die eine selbstbestimmte Änderung des (binären) Geschlechtseintrags auf Antrag (zumindest für Erwachsene) zulassen und jedenfalls keine Psycho-Medizinischen Behandlungen oder Operationen erfordern, u.a.: Irland (2015), Norwegen und Frankreich (2016), Belgien, Portugal und Luxemburg (2018), Schweiz (2022), sowie Spanien und Finnland (2023)

Fazit

Mensch sieht also, es lohnt sich auf jeden Fall weiterzustreiten.

Zum Abschluss möchte ich nochmal festhalten, dass während in Hinblick auf inter* im medizinischen Diskurs nach wie vor versucht wird körperliche Merkmale zu klassifizieren (und zu abnormalisieren), wird in Hinblick auf trans* vor allem Versucht geistige bzw. hirnanatomische Merkmale zu klassifizieren (und zu abnormalisieren).

Um auch ein bisschen einen positiv-hoffnungsvollen Abschluss zu finden, möchte ich daran erinnern, dass selbst da, wo biologische Unterschiede auszumachen sind, die Anwendung der Technologie bisher vorhandene Grenzen verwischen kann. Dabei bleibt die Richtung der technologischen Entwicklung weiterhin ein gesellschaftliches Unterfangen, was die Notwendigkeit reflexiver Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Verfasstheit innerhalb der Technologie begründet, genauso wie unsere Intervention in technologische Entwicklungen. Hier können wir auch wieder Donna Harway’s Cyborg-Metapher aufgreifen, die eine weitere Möglichkeit zur Verfügung stellt, Geschlecht als gemacht und veränderbar zu betrachten. Ich denke, das sollten wir weiterverfolgen und das sollte auch unser expliziter Anspruch im technowissenschaftlichen Tun zu sein: die Welt zu verändern, im Sinne eines schönen Lebens für Alle.

Diskurs-Sequenz

Kürzere Plenumsdiskussion. Aufgrund des Themenumfangs werden wir damit in der folgenden Session fortfahren.

Checkout & Vorbereitung auf Session 11

Wir werden uns in der kommenden Session weiter mit dem heutigen Thema auseinandersetzen, und damit den vorläufigen bzw. fixen Input-Teil der LV abschließen. Während wir in Session 10 einen kurzen Rückblick über die LV bisher machen und überlegen, welche Themen wir im Juni noch anhand von Inputs besprechen wollen, werden wir uns in Session 11 (in drei Wochen - da ein Feiertag dazwischen ist) mit Methoden und euren Forschungsprojekten auseinandersetzen.

Daher sind nun bis zur Session 11 folgende Texte zu lesen, um eine Basis für die Methodendiskussion zu bilden:

  • Wigginton, Britta, and Michelle N Lafrance. 2019. “Learning Critical Feminist Research: A Brief Introduction to Feminist Epistemologies and Methodologies.” Feminism & Psychology 0 (0): 1–17. https://doi.org/10.1177/0959353519866058. (~30 min)

  • Ernst, Waltraud. 2019. “Technikverhältnisse: Methoden feministischer Technikforschung.” In Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung, edited by Beate Kortendiek, Birgit Riegraf, and Katja Sabisch, 447–55. Band 1. Wiesbaden: Springer VS. (~25 min)

  • Cojocaru, Eugenia, Waltraud Ernst, Peter Hehenberger, Helmut J. Holl, and Ilona Horwath. 2014. “Design for Gender: Bedienungsgerechte Maschinenentwicklung durch Expertise von MaschinenbedienerInnen.” In Agenda Gute Arbeit: geschlechtergerecht!, edited by Marianne Weg, Brigitte Stolz-Willig, and Reiner Hoffmann. Hamburg: VSA. (~45 min)

Und ganz am Ende gibt es noch unseren üblichen Checkout-Slido mit einer einzigen Frage:

  • Word cloud: Mit welchem Gefühl oder Gedanken gehe ich nun aus der LV und in den Abend?

Referenzen

Allex, Anne. 2014. Stop Trans*-Pathologisierung: Berliner Positionen zur Internationalen Kampagne. AG SPAK Bücher.

Enzenhofer, Bettina Stefanie. 2011. “Die Verhandlung von Geschlecht in gegenwärtigen medizinischen Veröffentlichungen zu ‘Disorders of Sex Development’ bei Neugeborenen : das Chicagoer Consensus-Statement und seine Folgen.” Master Arbeit, Universität Wien.

Fausto-Sterling, Anne. 2002. “Sich Mit Dualismen Duellieren.” In Wie Natürlich Ist Geschlecht? Gender Und Die Konstruktion von Natur Und Technik, edited by Ursula; Gottburgsen Pasero, 17–64. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Fausto-Sterling, Anne. 2000. “The Five Sexes, Revisited.” The Sciences 40 (4): 18–23. https://doi.org/10.1002/j.2326-1951.2000.tb03504.x.

Fausto-Sterling, Anne. 1993. “The Five Sexes: Why Male and Female Are Not Enough.” The Sciences March/April 1993: 20–24.

Knox, David, and Caroline Schacht. 2010. Choices in Relationships. An Introduction to Marriage and the Family. Wadsworth, Cengage Learning.

Maurer, Margarete. 2002. “Sexualdimorphismus, Geschlechtskonstruktion Und Hirnforschung.” In Wie Natürlich Ist Geschlecht? Gender Und Die Konstruktion von Natur Und Technik, edited by Ursula; Gottburgsen Pasero, 64–108. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Reiter, Michel. 2000. “Medizinische Intervention Als Folter.” GiGi - Zeitschrift Für Sexuelle Emanzipation 9. http://gigi-online.de/intervention9.html.

Serano, Julia. 2007. Whipping Girl: A Transsexual Woman on Sexism and the Scapegoating of Femininity. Seal Press.

Stone, Sandy. 1987. “The Empire Strikes Back: A Posttransexual Manifesto.” Advanced Communication Technologies Laboratory (ACTLab). Department of Radio, Television and Film, the University of Texas at Austin. http://sandystone.com/empire-strikes-back.html.

VIMÖ 2023. Über Inter*. https://vimoe.at/ueber-inter. Zuletzt aufgerufen: 2023-05-14.

Voß, Heinz-Jürgen. 2010a. Making Sex Revisited: Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive. Transcript Verlag.

Voß, Heinz-Jürgen. 2010b. Geschlecht: Wider die Natürlichkeit. Schmetterling Verlag GmbH.

WP (en): Sex differences in humans. 2023-05-14: https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Sex_differences_in_humans&oldid=1149857821. 2016-01-11: https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Sex_differences_in_humans&oldid=699372899.